ARTIST IN RESIDENCE • KOMPOSITION
GEORG GLASL • KOCHEL
Konzert
IM AUGE DES GREIFERS
IM AUGE DES GREIFERS
Eine musikalische Spurensuche in Kirchenburgen
Samstag, 29. Juni 2024, 21 Uhr, Peterskirche, Lienzingen
Georg Glasl kam als neugieriger Gast in den Enzkreis. Ausgangspunkt für die Einladung durch die Ludwig Seeburger Stiftung nach Maulbronn war sein Interesse an den Wehrkirchen, die viele der Orte hier prägen. Zwar haben sie ihre ursprüngliche Schutzfunktion lang verloren. Trotzdem sind die Kirchenburgen durch ihre identitätsstiftende Wirkung für einen Teil der Bevölkerung weiter Schutzorte, die es zu bewahren gilt.
Während seiner Spurensuche entdeckte Georg Glasl vieles, das ihn inspirierte: In der Schützinger Ulrichskirche faszinierten ihn die Fresken aus dem 13. Jahrhundert, vor allem die Beweinung des Todes Mariens. Ein anderes Fundstück ist ein Mariengebet von 1482 in der Tonnendecke der Liebfrauenkirche in Lienzingen, das an ihre ursprüngliche Funktion als Marien-Wallfahrtskirche erinnert.
In der Kirchenburg Weissach faszinierte ihn der mächtige, freistehende Glockenturm mit dem wachsamen Falken sowie das vierstimmige Geläut, das die Menschen durch den Alltag begleitet. Im Henri-Arnaud-Haus, dem Waldenser-Museum in Ötisheim-Schönenberg, lernte er die Geschichte der Waldenser kennen, die 1699, wegen ihres Glaubens aus dem Piemont vertrieben, in den Enzkreis einwanderten. Und er erfuhr, dass Patouà, ein okzitanischer Dialekt und früher die Umgangssprache der Waldenser, so gut wie ausgestorben ist. Interessant fand er auch, dass sich die Dichterin Richarda Huch Ende Juni 1928 mit einem schnellen eintägigen Blick auf Maulbronn begnügte, bevor sie dem Ort ein Kapitel in ihrem Buch „Im alten Reich. Lebensbilder deutscher Städte“ widmete.
All diese Fundstücke sind auf unterschiedliche Weise in die Komposition eingeflossen. Sie geben auch inhaltlich die Themen vor, die in der Arbeit immer wieder anklingen: Migration, der Verlust von Heimat und kulturellem Erbe, aber auch Ankommen, Assimilation, Wertschätzung.
Musik und Klangsprache
Die Klangsprache ist geprägt von einer Collagentechnik, die neben verschiedenen Text-Bausteinen sowohl das vierstimmige Weissacher Glockenspiel aufnimmt als auch überlieferte Musik des Gambisten Tobias Hume (* um 1569-1645), eines schottischen Musikers und Soldaten aus der Zeit des 30jährigen Kriegs. Ebenso berücksichtigt werden Field Recordings, u.a. die Rufe der Turmfalken oder die Arbeitsgeräusche des Glockenwerks.
Ein zentrales kompositorisches Moment ist der Schnittpunkt zwischen Sprache und Musik. Kurze, klare Textsequenzen wechseln sich mit Sprachklang ab, der an das Murmeln von Litaneien erinnert. Manchmal genügen auch reine Vokale und Zischlaute, die orchestriert ihre suggestive Kraft entwickeln.
Rezitiert werden beispielsweise Listen mit Namen der Geflüchteten, die sich Ende des 17. Jahrhunderts im Enzkreis ansiedelten. Eingang gefunden haben auch historische Sprachaufnahmen in Patouà, der ursprünglichen Umgangssprache der Waldenser. Jeanette und Jean Gilles lesen Auszüge aus dem Lukas-Evangelium.
Der Posaunenchor nimmt in der Komposition einen zentralen Platz ein. Er spielt zwei Choräle, beide mit dem Titel Ich dank dir schon durch deinen Sohn. Erst die ursprüngliche Fassung von Michael Praetorius (1571-1621) und später die heute gebräuchliche Version von Johann Sebastian Bach (BWV 349). Der Österreicher Joseph Schaitberger (1658-1733), als evangelischer Ketzer des Landes verwiesen, verwendete die Melodie von Praetorius in seinem Exulantenlied von 1686. Darin beklagt er das traurige Schicksal derjenigen, die wegen ihres Glaubens flüchten mussten.
Die Gegenüberstellung und Übermalung der historischen Fundstücke mit aktuellen Klängen ermöglicht einerseits ein poetisches Klangerlebnis, verweist andrerseits auch auf die Migrationsproblematik unserer Zeit.
Warum Musik des Gambisten Tobias Hume?
Captain Tobis Hume war Soldat und kämpfte im 30-jährigen Krieg unter anderem auf Seiten der Schweden. Er war Gambenspieler und Komponist, beherrschte auch das Kriegshandwerk. Ausgewählt wurden aus der Ausgabe „The First Part of Ayres, French, Pollish & Others or Captaine Humes Musicall Humors“ (1605) Werke mit den Titeln Deth, Life oder Touch me lightly. Beeindruckend, wie humorvoll, ja fast dadaistisch Hume mit zentralen Momenten des Lebens umgeht.
Das zentrale Stück „Deth“ erweitert sich, wie bei einem Rondo, zum Zwiegespräch. Während der Tod in Humes Fassung kommt, wann er will, lehnt sich im Refrain die Zither dagegen auf, um noch ein paar Sommer herauszuschlagen.
Heterogenität und Einfachheit
Aus der kompositorischen Themensetzung Sprache – Klang – Raum ergibt sich ein vielfältiger Fundus an Materialien. Durch den Rückbezug aller gefundenen Klänge, Texte und räumlichen Gegebenheiten auf das Instrumentarium Alt-, Bass- und E-Zither sowie Posaunenchor ergibt sich eine hilfreiche Beschränkung, die zur Klarheit zwingt.
Auch beim Bläsersatz wird das Tonmaterial begrenzt. Entstehen soll ein ebenso geschlossener wie individueller Ensembleklang, der am Ende den Innenhof der Kirchenburg zum Schwingen bringt.
Mitwirkende:
- Alt- und Basszither, E-Zither: Georg Glasl
- Sender-Posaunenchor:
Heike Koch-Walter, Steffen Adam, Sabine Metzger, Günter Staub, Barbara Straub, Jürgen Traub, Klaus-Martin Andreas,
Vera Geltner (Leitung) - Sprecherin: Ruth Geiersberger (Aufnahme)
- Technik: Roland Straub und Uwe Siegmund
Fotografische Begleitung der Spurensuche: Wilfried Gebhard
Georg Glasl, Jahrgang 1957, unterrichtete bis August 2023 Zither an der Hochschule für Musik und Theater München. Als Musiker machte er durch seine differenzierten, einfühlsamen Interpretationen Alter Musik auf sich aufmerksam. 1988 erhielt er für sein außergewöhnliches Zitherspiel das Förderstipendium der Stadt München, 2009 folgte der Musikförderpreis der Stadt. Ohne die Alte Musik zu vernachlässigen, engagiert er sich sehr für zeitgenössische Musik. Zahlreiche Komponisten haben für ihn und sein Instrument geschrieben.
Er spielte bei zahlreichen Festivals und renommierten Konzertreihen (u.a. Musica viva/München, Klang-Aktionen/München, Steirischer Herbst, Wien modern, Klangspuren/Schwaz, Bemus Festival/Belgrad, Popayan-Festival/Kolumbien, Beijing Modern Music Festival, MITO Festival, Italien/Turin, Deutsche Oper Berlin).
In den letzten Jahren arbeitet er verstärkt spartenübergreifend. Beispiele dafür sind das BR-Hörspiel über den Hitler-Attentäter Georg Elser („Der Zitherspieler“) oder „Alpenglühen. Match, Maiandacht und magische Gesänge“, die das Bayerische Staatsschauspiel nach seiner Idee mit Dramoletten von Thomas Bernhard und zeitgenössischer Musik für Zither produzierte. (www.georgglasl.de)
Informationen für Konzertbesucher:
- Peterskirche Lienzingen, Kirchenburggasse, 75417 Mühlacker
- Autofahrer: Bitte Fußweg einplanen
- Der Eintritt ist frei. Freie Platzwahl.
- Konzertdauer ca. 60 Minuten, keine Pause
- Konzertbeginn: 21 Uhr
- Einlass: 15 Minuten vor Konzertbeginn
Veranstalter:
Ludwig Seeburger Stiftung n.e.V. Maulbronn in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Kirchengemeinde Lienzingen